Gesichtsrekonstruktion

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Gesichtsrekonstruktion am Schädel eines alamannischen Mannes aus Nusplingen

Eine historische Rekonstruktion soll ein möglichst lebendiges, ja ergreifendes Antlitz erzielen, die individuelle Identifizierbarkeit ist dagegen zweitrangig. Individuelle Züge werden deshalb betont, auch ausgeprägte Mimik ist erlaubt.

Für die Rekonstruktion von menschlichen Gesichtern anhand der erhaltenen knöchernen Strukturen sind zwei Grundlagen zu berücksichtigen: Statistische Mittelwerte und individuelle Detailmerkmale. Die durch Reihenuntersuchungen mittels Sondierung, Ultraschall oder CT erhobenen Mittelwerte der Weichteildicken am menschlichen Gesicht ergeben die Grundzüge und Grundform des Gesichts. Kleine anatomische Details verweisen dagegen auf die individuelle Form der Brauen, der Augen oder der Nase.

Der Mann von Nusplingen

Für die Gesichtsrekonstruktion eines Alamannen wurde Ind. 1209 vom Gräberfeld Nusplingen aus der Osteologischen Sammlung der Abt. Paläoanthropologie, Inst. für Urgeschichte, Universität Tübingen, herangezogen. Das Reihengräberfeld von Nusplingen/Zollernalbkreis datiert bis zum Ende des 7.Jh. n. Chr., die etwa 300 Gräber wurden 1934/35 ausgegraben. Den Beigaben nach war die Bevölkerung nur durchschnittlich wohlhabend und wies nach Czarnetzki et al. einen relativ hohen Endogamiegrad auf – das heißt, durch interne Heiratsbeziehungen ergaben sich recht hohe Ähnlichkeiten zwischen den Angehörigen der Gruppe. Diese Eigenschaften und die insgesamt sehr gute Erhaltung machten Ind. 1209 damit zu einem für eine beispielhafte Rekonstruktion sehr geeigneten Vertreter der alamannischen Bevölkerung Süddeutschlands.

Individualdaten

Ind. 1209 starb im Alter von ungefähr 35 Jahren. Die Geschlechtsbestimmung wies ihn unzweifelhaft als männlich aus; generell ist der Geschlechterdimorphismus im süddeutschen Frühmittelalter recht deutlich ausgeprägt.

Der Skeletttypus ist robust, mit stark ausgeprägtem knöchernen Relief und kräftigen Muskelansatzstellen, v.a im Bereich der Linea temporalis. Die Glabella ist deutlich erhaben, auch die Arcus superciliares zeichnen sich deutlich vom Stirnniveau ab. Die Nase ist recht schmal und hoch und zeigt eine geringe Achsenabweichung nach links. E in Teil der Frontzähne ging postmortal verloren, die Rekonstruktion der Okklusion ist jedoch problemlos. Der Zahnschluss war orthognath und zeigt keine Protrusion im Frontbereich. Das Gebiss ist für das Alter recht stark abgenutzt und lässt eine Bevorzugung der rechten Seite als Kauseite erkennen. Darauf ist auch die leichte Gesichtsasymmetrie zurückzuführen, mit stärkerer rechter und grazilerer linker Seite.

Der Hirnschädel ist langgestreckt, schmal und niedrig. Ind. 1209 ist damit ein charakteristischer Vertreter des sogenannten „Reihengräberfeldtypus“, der morphologisch auf merowingerzeitlichen Friedhöfen dominiert.

Leichte Cribra orbitalia deuten auf anämische Zustände hin, entweder durch Skorbut nach dem Winter (leichte Parodontitis liegt ebenfalls vor), oder durch Endoparasiten wie Würmer. Auf dem rechten Os zygomaticum könnten Zeichen einer verheilten Periostitis vorliegen, bedingt durch einen infektiösen Vorgang der Weichteile im Wangenbereich. Außerdem ist hier ein kleines Osteom (gutartige Knochengeschwulst) erkennbar.

In den Nasennebenhöhlen finden sich Zeichen einer chronifizierten Sinusitis maxillaris. Auf dem linken Teil der Stirn findet sich eine kleine Defektmulde, evtl. Überrest einer verheilten Verletzung. Der Ernährungszustand insgesamt scheint mäßig gut, die Belastungszeichen sind ausgeprägt.

Schritte der Gesichtsrekonstruktion

  1. Auf definierten Stellen des Schädels („landmarks“) werden Marker aufgebracht, die die Dicke der Weichteilbedeckung an dieser Stelle wiedergeben. Bis auf einen Zehntelmillimeter genau richten sich die Werte nach statistisch ermittelten Werten, die typisch für mitteleuropäische Männer mittleren Alters sind. Außerdem wird die Neigung der Lidspalte anhand kleiner anatomischer Details in der Augenhöhle markiert.
  2. Der markierte Schädel wird in Ohr-Augen-Ebene orientiert von frontal und im Profil fotografiert. (Bild 1a und 1b)
  3. Die Fotografien dienen als Grundlage der Umrissrekonstruktion. Anhand bekannter Gesetzmäßigkeiten wird bei diesem Schritt auch die Mundbreite und Lippendicke, Nasenbreite und Form des Nasenrückens, Größe der Nasenflügel, Form und Lage der Augen und der Verlauf der Brauen bestimmt und eingezeichnet. (Bild 2a und 2b)
  4. Über der Umrisszeichnung wird die schattierte Detailzeichnung angelegt. Dadurch werden Konturen, die durch Muskelmarken oder Knochenvorsprünge angedeutet werden, plastisch herausgearbeitet. Die Oberfläche erhält Strukturen, die Alter und Geschlecht kennzeichnen. Der Verlauf von Falten kann teilweise ebenfalls von knöchernen oder muskulären Substrukturen abgeleitet werden, ebenso Asymmetrien durch einseitige Kaubelastung oder Narben. (Bild 3a und 3b)
  5. Die fertige Zeichnung wird digitalisiert und mit Hilfe eines Zeichenprogramms in ein dreidimensionales virtuelles Modell umgewandelt. Dieses erhält eine passende Oberflächentextur, um „lebendig“ zu wirken. (Bild 4a und 4b)
  6. Das fertige Modell kann mit für die Zeitstellung typischer Haar- und Barttracht versehen werden und einer plastischen Modellierung als Grundlage dienen. Feine Porositäten der Knochenoberfläche zeigen den Verlauf der Stirnhaargrenze an. (Bild 5a)

Verwendete Literatur

  • Czarnetzki, Alfred et al, Menschen des frühen Mittelalters im Spiegel der Anthropologie und Medizin. Württembergisches Landesmuseum Stuttgart 1985
  • Gerasimov, Michail M. The Face Finder. New York CRC Press, 1971
  • Helmer, Richard et al. “Assessment of the Reliability of Facial Reconstruction.” Forensic Analysis of the Skull: Craniofacial Analysis, Reconstruction, and Identification. Ed. Mehmet Iscan and Richard Helmer. New York: Wiley-Liss, Inc. 1993. 229-243.
  • Wilkinson, Caroline. Forensic Facial Reconstruction. Cambridge University Press, 2004
  • Dr. Martin Trautmann - www.ao-bioarchaeologie.de

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