Atto "der Weitfahrer"
Ich bin Atto, der dritte Sohn des Mago, dessen Namen unsere Siedlung Magoingen trägt.
Der Magohof liegt im Ablachtal, wo die Ablach in die Donau mündet. Meine beiden älteren Brüder kamen durch Krankheit und Kampf ums Leben, und so ging das Erbe an mich über. Vor einem Jahr starb auch meine Frau und hinterließ mir einen Sohn. Meine Hauswirtschafterin Irmgart übernahm mit gestrenger Hand seine Erziehung, damit er ein guter Mann wird.
Zu meinem Hof gehören auch einige Kätnerstellen, auf denen die Pächter mit ihren Familien leben. Sie stehen in meiner Pflicht und werden zur Stelle sein, wenn auf dem Hof Hilfe gebraucht wird. Außerdem besitze ich noch drei unfreie Knechte - Gernot, Hrolf und Ulfbert. Für den Eigenbedarf lasse ich von Hrolf und Gernot Gerste und Hafer anbauen; aber auch Dinkel, Einkorn, Roggen und Linsen stehen auf meinen Feldern. Für die Haustierhaltung ist Ulfbert zuständig. Das ist keine geringe Aufgabe, denn mein Hof ist groß und ich besitze vier Pferde, ein Dutzend Kühe, einen Stier und zwei Ochsen. Außerdem nenne ich fünfzig Schafe, fünfzehn Muttersauen und zwei Eber mein eigen.
Die wertvollen Pferde habe ich von einer Handelsreise aus dem Land der Awaren mitgebracht. Sie sind groß, stark und trotzdem zäh und daran gewöhnt, ihr Futter das ganze Jahr auf den Weiden zu suchen, so wie die Schafe. Für die Kühe und Schweine habe ich Ställe für den Winter. Die struppigen Schweine werden im Frühjahr in den Wald getrieben, wo sie sich bis zum Spätherbst an Eicheln, Bucheckern, Kastanien und allerlei anderem fett fressen können.
Damit die Kühe nach dem Kalben noch lange Milch geben, werden sie jeden Tag gemolken. Irmgart und die Mägde machen daraus Quark, Butter und Käse. Ziegen halten wir nicht mehr, nachdem sie trotz Umhegung Irmgarts Kräutergarten das fünfte Mal kahl gefressen haben. Mit den Ochsen wird die schwere Feldarbeit erledigt; ich leihe sie gegen Bezahlung oder Frondienst auch den Pächtern aus. Die Schafe halte ich der Wolle wegen, sie werden im Frühjahr geschoren. Die Wolle wird von den Weibern gesponnen und zu feinem Wollstoff verwoben, den ich dann als Handelsgut auf meine Reisen mitnehme.
Im Winter, wenn der erste Schnee gefallen ist und die Bäume vor Kälte ächzen, gehe ich auf die Jagd. Jetzt haben die Tiere ihr dichtestes Fell. Marder, Eichhorn und Fuchs werden am höchsten gehandelt. Wenn es sich ergibt, jage ich auch Wolf und Bär. Falken, die für die Jagd abgerichtet werden, erzielen einen hohen Preis gerade bei den Awaren, und gehören deshalb auch zu meinem Handelsgut. Für einen Falken bekomme ich 12 Solidi. (Zum Vergleich: Ein ranghoher Krieger im Fürstengefolge bekommt zwischen 3 und 5 Solidi im Jahr.)
Handelsreisen sind lohnend, aber auch sehr gefahrvoll. Alleine reisende Händler werden nicht selten ausgeraubt und als Sklaven verkauft. Deshalb reise ich zusammen mit anderen Händlern im Frühjahr nach der Schneeschmelze die Donau abwärts, nach Pannonien zum Volke der Awaren. Das sind raue Reiter und Viehzüchter, deren größter Besitz ihre Pferde sind. Bei ihnen tausche ich Wollstoffe, die Felle und Falken gegen Gold, Silber und Salz. Weil mich meine Fahrten in weit entfernte Gegenden führen, nennen mich die Leute der Siedlung den Weitfahrer.
Auf meiner nächsten Reise wird mich mein Sohn begleiten, um die Gepflogenheiten des Handels zu erfahren. Vielleicht lasse ich ihn am Hofe eines awarischen Fürsten zurück. Dort kann er ihre Sitten lernen und unsere Beziehungen weiter ausbauen.
Anmerkungen:
Magoingen: Heute Mengen. Viele Ortsnamen leiten sich von Personennamen ab, die bei der Begründung eine vorrangige Rolle spielten. Die Endung -ingen bedeutet etwa so viel wie "Gesinde, Gefolgschaft, Sippe von xy".
Landwirtschaft war im Frühmittelalter die Lebensgrundlage für fast die gesamte Bevölkerung. Anders als in den städtischen Zentren der Spätantike konnten die kleinen Streusiedlungen spezialisierte Handwerker oder Händler nicht unterstützen. Diese Personen waren fast immer Bauern mit Nebenberuf. Erst mit der Herausbildung neuer Machtzentren ("Herrensitze" wie auf dem Runden Berg von Urach) lohnte sich die Spezialisierung wieder.
Schon Tacitus berichtet von einem Klassensystem bei den Germanen (Adelige, Freie und Unfreie); diese Gesellschaftsordnung hielt sich auch im Frühmittelalter, wurde aber mit Halbfreien, Hörigen und Abhängigen noch komplizierter. Der Status hatte vor allem Einfluss auf Rechtsfähigkeit und Rechtswert.
Tausch von Gütern und Arbeitsleistungen stellte die hauptsächliche Wirtschaftsform dar. Münzgeld, wie es die Römer in Südwestdeutschland eingeführt hatten, war zwar bekannt, spielte aber nur bei reichen Leuten mit weitreichenden Kontakten eine gewisse Rolle. Eigene Münzen wurden nicht herausgebracht, im Umlauf waren alte Prägungen und solche Ostroms. Aus historischen Quellen (im Umfeld der Höfe und Klöster) sind aber einige "Preislisten" überliefert, die einen Eindruck des Werts verschiedener Güter erlauben. So kosteten ein Ochse 3–5 Tremissen, Schild und Lanze 2 Solidi, ein Helm 6 Solidi, ein Schwert mit Scheide 7 Solidi, ein Reitpferd 7-12 Solidi, eine Brünne 12 Solidi. Sogar "Besserverdiener" erwarben im Jahr insgesamt selten mehr als 5-10 solidi.
Der solidus war eine römische Goldmünze, 312 von Konstantin dem Großen als Leitwährung des Römischen Reichs eingeführt. Die Münze hatte ein Idealgewicht von 4,55 g (1/72 römisches Pfund). Häufiger genutzt wurden Drittel des Solidus, als Tremissis oder Triens bezeichnet. Von der Münzbenennung leiten sich die Begriffe Sold, Soldat und Söldner ab. Bis zum frühen 12. Jh. war die Münze (mit stark reduziertem Wert) Leitwährung in Europa.