Lykke
Mein Name ist Lykke, ich bin die älteste Tochter des Meinrad und der Lioba.
Dies ist mein 26. Sommer und das siebte Jahr der Herrschaft des großen Königs Chlothar II. Er ist bei den meisten im Volk sehr beliebt, hat er doch mit seinem Sieg über Brunichild vor sieben Sommern das Frankenreich wieder vereint und Ruhe in die vom Bruderkrieg sehr belasteten Länder gebracht.
Ich lebe mit meinem Mann Witold und dessen Munt Henrike auf einem Gehöft nahe dem Fluß Nicer. Es ist eine sehr fruchtbare Gegend, zwischen sanften Hügeln und weiten Wäldern. Unsere Siedlung wird Tagelvingen genannt, nach einem Vorfahr meines Mannes. Dieser nannte sich Tagilof und hat hier vor vier Generationen den ersten Hof errichtet.
Henrike ist Fränkin und eine entfernte Verwandte des Herzogs. Durch seine Verbindung mit ihr wurde Witold zum Jagdaufseher des Herzogs ernannt. Ihm obliegt nun die Oberaufsicht über alle Wälder und Wiesen der Gegend.
Ich lernte meinen Mann kennen, als ich meine Mutter - die Hebamme - begleitete, die zur Niederkunft seiner Munt gerufen wurde. Ich war damals in meinem 17. Sommer. Henrike zählte 15 Sommer und erwartete ihr erstes Kind. Es war eine sehr lange, schwere Geburt, da Henrike sehr klein und das Kind sehr groß war. Wir verbrachten zwei volle Tage und Nächte auf dem Hof und glaubten alle nicht mehr an ein gutes Ende, als schließlich ein gesundes Mädchen das Licht der Welt erblickte. Sie nannten das Kind Irmintrud, die Kraftvolle. Henrike hatte bei der Geburt sehr viel Blut verloren und sie wird wohl nie wieder guter Hoffnung sein. In diesen zwei Tagen und Nächten kamen Witold und ich uns sehr nahe. Es bewegte mich sehr, wie er sich um das Wohl seiner Munt sorgte und im folgenden Winter zog ich als seine Friedel auf den Hof, was den Christenpriester sehr erboste.
Wir haben drei gesunde Jungen. Unser ältester - Walthar - ist acht Sommer alt, Wunuald sechs Sommer und Wittekind ist heuer in seinem vierten Winter. Unsere Tochter Aleke habe ich dieses Jahr zur Zeit der Aussaat geboren. Ich bin sehr froh, dass es diesmal eine Tochter ist. Es ist nicht leicht mit so viel Mannsvolk auf dem Hof. Man möchte meinen, sie verbringen den ganzen Tag in Lehmgruben und ihr liebster Zeitvertreib ist es, sich Löcher in die Kleider zu reißen. Wir Frauen haben dann damit zu tun, alles zu säubern, auszubessern und die Wunden zu versorgen. Wenn die Söhne dann alt genug sind, ziehen sie mit den Vätern in den Kampf und die Sorge um sie beginnt von neuem.
Meine Mutter, die Hebamme, starb im zweiten Winter nach Irmintruds Geburt an Auszehrung. Seit dieser Zeit habe ich ihre Aufgaben übernommen. Ich helfe den Frauen auf den umliegenden Höfen bei ihren Geburten. Die Frauen kommen aber auch zu mir, um die verbotenen Früchte unerlaubter Liebschaften los zu werden. Manch eine Frau kommt auch mit der Bitte nach Kräutern zu mir, die eine weitere Schwangerschaft verhindern sollen. Das wird nicht gerne gesehen und wir Frauen tun dies meist ohne das Wissen unserer Männer. Aber ich habe schon zu viele Frauen bei der Geburt oder im Kindbett sterben sehen, um mich diesen Bitten zu verwehren und mein Wissen für mich zu behalten.
Ansonsten gehört es zu meinen Aufgaben kleine Wunden zu nähen, welche sich die Männer bei der Arbeit zuziehen oder ich werde gerufen, wenn alljährlich das Winterfieber wütet. In den langen Stunden des Wartens, die meine Aufgabe oft mit sich bringt, fertige ich Brettchenwebborten für meine Familie und die Nachbarn. Für meine Dienste werde ich von den Familien mit Getreide, Honig oder auch einmal mit einem Ferkel entlohnt. So trage ich meinen Teil zum Auskommen der Sippe bei neben den ganzen alltäglichen Arbeiten, die auf einem Gehöft anfallen.
Anmerkungen:
Tagelvingen: Neckartailfingen
Muntehe: Eine Muntehe war ein reines Rechtsgeschäft zwischen zwei Familien. Die Braut stellte das "Vertragsobjekt" dar. Muntehen wurden aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen geschlossen, oft ohne daß sich die Ehepartner vorher kannten. Ein Mann durfte nur eine Muntfrau haben. Nach dem Tod des Ehemannes fiel die Frau in die Vormundschaft ihres Vaters, Bruders oder Sohnes zurück und konnte nach deren Willen weiter "gewinnbringend" verheiratet werden.
Friedelehe: Friedel kommt von friudiea = Geliebte. Der Ehegatte wurde nicht zum Vormund seiner Frau. Die Ehe beruhte auf dem Wunsch beider Partner sich zu vermählen. Die Kinder waren ursprünglich voll erbberechtigt. Der Frau stand das alleinige Scheidungsrecht zu. Ein Mann konnte beliebig viele "Friedeln" haben.