Olrun

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Ich bin Olrun. Ich wohne in dem Weiler Sülchen, bei der alten Römerstadt. Römer gibt es schon lange keine mehr hier, aber die Ruinen ihrer Häuser stehen noch. Wir gehen dort nicht gerne hin, eigentlich nur zum Steineholen, oder um die zu begraben, die an der seltsamen welschen Krankheit gestorben sind, bei der einem das Fleisch von den Knochen fällt.
Unser Hofgut in Sülchen ist ein ansehnlicher Platz: Wir haben ein schönes großes Haus. Für meinen Mann und mich gibt es einige besondere Kammern, aber die Gefolgsmänner, die Knechte und die Mägde schlafen in der Halle oder im Heu über dem Stall. Es gibt ein eigenes kleines Haus für die Küche, und es gibt einen Schuppen für den Schmied, und einen für den Schreiner. Weiden für Rinder und Pferde umgeben unser Gehöft, und im feuchten Wiesengrund hat mein Mann einige Fischweiher ausheben lassen.

Mancher, der mich sieht und meinen bunten Schmuck und die schweren Silberspangen an meinem Gewand, mag glauben, ich sei eine Alamannin. Ich bin es nicht!
Ich bin in Gerisheim am Rhein geboren. Ich bin eine Fränkin!
Schon mehr als fünfzig Jahre ists nun her, dass wir mit den alamannischen Unruhestiftern in Zülpich Schluss gemacht haben. Das Königsheil war stets auf unserer Seite! Seither sind viele fränkische Männer hierher geschickt worden, um im Land für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Mein Mann ist einer von diesen. Wir waren damals noch ganz jung, wir hatten gerade geheiratet. Wir wollten mehr machen aus unserem Leben, es zu etwas bringen. Da ging mein Mann zum Herzog hin, in dessen Heerbann er diente, und bat ihn um eine Gelegenheit, seinen Wert unter Beweis zu stellen. Da wurde er ins Alamannenland geschickt. Eine Hundertschaft treuer Gefolgsleute aus Thüringen wurden auf seinen Namen eingeschworen, die sollten unser Leben schützen und meinem Mann bei seiner Arbeit helfen. Denn wir hatten es ja mit den wilden Alamannen zu tun, die immer noch gegen die fränkische Herrschaft grollten.

So zogen wir los, den Neckar hinauf, bis wir endlich nach Sülchen kamen. Aber was fanden wir da? Ein wüstes Land, jedes zweite Feld lag brach, in jedem dritten Hause wühlten die Schweine! Was war geschehen? Viele Alamannen waren nach der Niederlage bei Zülpich geflohen, ins Gotenreich zu König Theoderich, der ihnen seinen Schutz zugesagt hatte. Von den wenigen, die in der Heimat geblieben, hatte dann viele die Pest mitgenommen. Und wer jetzt noch Kraft zum Arbeiten hatte, dem war doch das Herz gebrochen.

Da wussten wir, weshalb wir eigentlich gekommen waren. Hier waren keine wilden Krieger, hier waren arme Menschen, die Not und Hunger litten! Da krempelten wir die Ärmel auf, denn es gab viel zu tun: Felder mussten neu gerodet werden, gepflügt, gesät, geerntet, Weiher neu ausgeschöpft, Sümpfe abermals ausgetrocknet und Häuser wieder aufgebaut werden. Viele Jahre lang haben wir so geackert und geschuftet, und viele hungrige Mäuler haben wir gestopft, und mancher Alamanne, der uns Franken vorher in die tiefste Hel gewünscht hätte, der ist jetzt ein guter Gefolgsmann.

So lebten wir viele mühevolle Jahre, und grad als es uns gut gehen wollte, da kam der Krieg in Italien. Und der Herzog rief seine Gefolgsleute zu sich in seinen Heerbann, den führte er nach Süden, um da gegen die römischen Feldherren zu streiten. Da musste mein Mann fort, und mit ihm seine Hundertschaft. Alljährlich im Frühjahr ziehen sie hin, und im Herbst kommen sie dann wieder, und bringen Gold und Rüstungen mit, die sie im Kampf erstritten haben, und schönen fremden Weiberschmuck. Wo sie den herhaben, will ich lieber nicht wissen. Und manch einer kommt gar nimmer heim. So geht es nun schon fünf, sechs Jahre lang.

Und wir Frauen? Wir bleiben hier und tun die harte Männerarbeit des Sommers. Und wieder heißt es Ärmel aufkrempeln und ackern, ernten, heuen, bis einem der Rücken knackt, und das Bier brauen, damit die Männer im Winter was zum Saufen haben.

Und ich? Wenn mein Mann fort ist, dann habe ich hier das Sagen, und entscheide über recht und schlecht in allen Dingen. Mein Wort gilt da nicht weniger als seins. Aber ich merke doch, dass die Leute unruhig werden, wenn er zu lange ausbleibt. Sie sagen dann: "Was, wenn er gar nicht wiederkommt? Wer wird dann unser Herr sein?" Und mancher wirft mir abschätzige Blicke zu, als ob meine Tage schon zu Ende gingen. Dann hab ich Angst um mich und meine Söhne, die noch minderjährig sind, und bin froh, dass einige der treuen Thüringer bei mir zu Haus geblieben sind.

Jetzt neigt sich der Sommer schon, und mein Mann ist immer noch nicht heimgekehrt, noch hab ich Kunde von ihm. Ich mache mir Sorgen. Was wohl sein wird?