Silvanus

  • Silvanus

Mein Name ist Lucius Ulpius Silvanus, vom Stamm der Nemetes (1). Ich wurde geboren im Jahr MLXXXV a.u.c. (2) auf unserem Landgut nahe der Stadt Nemeta (3) als Sohn des Marcus Ulpius Aeton und der Ursa. Mein Vater lebt seit seiner Entlassung aus dem Militärdienst vom Weinbau und vom Handel, und als Veteran hat er ein hohes Ansehen in der Stadt, zumal unsere Familie bereits seit über 200 Jahren das römische Bürgerrecht (4) besitzt, das unser Vorfahr Aeton sich in den Dakerkriegen (5) unter Kaiser Traianus (6) verdiente.

Schon deshalb ist es bei uns Tradition, in der Grenzwacht der vindices (7) zu dienen. Ich selbst habe vor acht Jahren dort meine Karriere begonnen und bin nun, mit 25, in den Rang eines Unteroffiziers aufgestiegen. Zu diesem feierlichen Anlass hat mir mein Vater sein kostbares Schwert mit dem Adlerkopf geschenkt, das ihm einst von Kaiser Constantinus (8) für seinen treuen Dienst übersandt wurde.

Mein Alltag ist weit weniger glanzvoll... da ich schon früh Reiten und Jagen gelernt habe, bin ich viel als Kundschafter, Unterhändler oder zum Auszahlen der Tributgelder an die foederati (9) unterwegs.

Meine Dienste werden immer dringender benötigt und die Aufträge immer gefährlicher, denn vor etwa fünf Jahren haben durch den Verrat des Kaisers Constantius (10) viele der Alamannen aus den Gebieten jenseits des Rheins gegen uns aufbegehrt und ziehen plündernd durch das Land oder verbergen sich in verlassenen Höfen.

Andere Alamannen wiederum sind unsere treuen Bundesgenossen, viele aus meiner Einheit kommen von den bucinobantes (11). Schon sehr früh musste ich ihre Sprache lernen, was zunächst nicht einfach war- bei uns zuhause spricht man nur Gallisch und in den Städten und am Kaiserhof in Treveris (12) das Latein. Wenn meine Schwester Luna mich im burgus (13) besucht, wird sie wegen ihres blonden Haars oft für eine Germanin gehalten, doch kann sie sich mit meinen Waffenbrüdern kaum verständigen.

Ich aber verstehe mich gut mit ihnen- sie sind sehr offen für unsere Kultur, und auch wir lernen viel von ihnen, besonders, wenn es um das Kämpfen in kleinen, leicht gerüsteten Gruppen geht. Unsere Grenzwachten werden immer schlechter versorgt und so müssen wir viel improvisieren und lernen, das Gelände zu nutzen und überraschende Manöver durchzuführen und unsere Kampfkraft, die jedes Einzelnen, zu verstärken. Darin haben die Alamannen viel Erfahrung. So singen wir bei den Übungen den germanischen barritus (14) und gehen nachher gemeinsam zur Kultfeier das Mithras (15). Diesen Freund des Sol (16) und Kämpfer gegen die Finsternis verehren sie sehr; außerdem beten sie zu Mars, den sie Tivar nennen, und zu ihrem Totengott Wodan. Ich selbst ehre neben Iupiter, Mercur, unseren Manes (17) und Silvanus (18), dem Herrn der Wälder und Felder, nach dem ich heiße, vor allem die alten Götter unseres Landes, Taranis (19), Epona (20), Nantosvelta (21) und die Matrones (22).

Es überrascht viele der jungen Soldaten, wenn ich ihnen erzähle, dass auch mein Stamm einst aus dem Land kam, in dem nun ihre Familien wohnen, denn natürlich denken sie, wir seien Römer, während die Italer uns wiederum abschätzig Gallier nennen. Ich selbst denke, dass wir beides sind.

Ich bin von hohem Wuchs und habe grüne Augen, aber dunkles, lockiges Haar, das ich wiederum nach Art der Germanen, die meinem Kommando unterstellt sind, lang trage. Mir gefällt es gut und ich scheine durch mein Auftreten ein besonderes Maß an Respekt bei ihnen zu finden. Mein Vater findet es natürlich barbarisch. Was soll ich sagen? Er ist alt, und die Zeiten ändern sich.

Vielleicht werden wir uns mehr denn je an die germanischen Stämme gewöhnen müssen, falls es dem jungen Caesar Iulianus (23) nicht gelingt, sie wieder hinauszuwerfen. Er ist ein tüchtiger Mann, über den viel erzählt wird, mit wildem Bart und voller Ideen, den alten Göttern treu ergeben und gebildet in den Lehren der Philosophen. Die Christen in Rom, Trier und Konstantinopel schätzen ihn nicht, aber die einfachen Leute und Soldaten hier setzen große Hoffnungen in ihn, und es gibt uns Mut, unter seinem Befehl zu kämpfen. Immer öfter muss ich den Rhein hinauf reiten, um Nachrichten aus Trier in sein Heerlager bei Rauracum (24) zu bringen oder Kampfeinheiten auszuheben und zu ihm zu führen. Dabei habe ich aber nur einmal kurz mit ihm gesprochen.

Jetzt, im Herbst des Jahres MCX a.u.c., ist die Lage ernster denn je- Nemeta ist wie viele Städte am Rhein in der Gewalt der Alamannen. Wir mussten den burgus aufgeben und des Nachts mit den Schiffen aus der Stadt fliehen, rheinaufwärts, vorbei an Tabernae (25). Viele unserer Auxiliare (26) sind desertiert oder zu den alamannischen Banden übergelaufen; die meisten Nemeter haben sich in die Wälder westlich unseres Bezirks zurückgezogen. Von meiner Familie habe ich seit Wochen nichts erfahren können.

In wenigen Tagen werden wir übrigen vindices uns auf geheimen Pfaden durch den Mons Vosegus (27) nach Argentorate (28) aufmachen, um mit Iulianus gegen die Eindringlinge zu kämpfen.

Ich hoffe sehr, dass ich auf dem Feld nicht die Gesichter meiner früheren Freunde und Bündnispartner sehen muss, denn sie tragen keine Helme wie wir... und noch größer als mein Zorn auf den alten Kaiser Constantius, der ohne Rücksicht die Alamannen gegen uns aufgebracht hat, ist die Trauer angesichts dessen, was uns im Krieg verloren gegangen ist.

Ich weihe dem Vosegus einen Stein, sollten wir unbeschadet und unentdeckt durch sein Reich zu Iulianus gelangen. Unser Schicksal ist in seiner Hand.

Anmerkungen:

1.Die Nemeter waren ein keltischer oder germanischer Stamm rechts des Rheins, der bei Cäsar und Tacitus Erwähnung findet. Als Hilfsvolk der Römer sollen sie sich im 1. Jh. n. Chr. im Gebiet der heutigen Südpfalz niedergelassen haben. Epigraphische Zeugnisse sprechen für eine rasche Vermischung mit den ansässigen keltischen Mediomatrikern und zugezogenen Römern.

2. Die angegebene Zeitrechnung ab urbe condita, „seit Gründung der Stadt“ [Rom] 753 v. Chr., war bis ins frühe Mittelalter geläufig und wurde erst dann durch die christliche Zeitrechnung nach dem Mönch Dionysius Exiguus abgelöst. Das angegebene Jahr entspricht somit 332 n. Chr.

3. heute: Speyer

4. Das erbliche römische Bürgerrecht konnte ein Provinzbewohner zunächst nur durch die ehrenvolle Entlassung nach dem 25-jährigen Militärdienst erhalten. Die neuen Bürger erhielten als Familiennamen oft denjenigen des amtierenden Kaisers. Erst 212 n. Chr. vergab Caracalla mit der Constitutio Antoniana das Bürgerrecht an alle freien Reichsbewohner.

5. In den Dakerkriegen 101/102 und 105 wurde Dakien als Provinz für Rom gewonnen und damit die reichen Goldlagerstätten in den Westkarpaten. Im Gebiet der letzten Aufstände, um die Stadt Sarmizeghetusa Regia, wurden auch germanische Auxiliare als Kundschafter (exploratores) stationiert.

6. Traian, 98-117 n.Chr.

7. Die vindices sind eine spätantike Enheit des römischen Grenzheeres am „nassen Limes“. Ihr Schildzeichen, eine Standarte mit zwei Wolfsköpfen, ist in der militärischen Handschrift Notitia Dignitatum aufgeführt.

8. Konstantin I., 306-337

9. Im freien Germanien lebende Stämme, die mit den Römern Verträge zur Grenzsicherung eingegangen waren.

10. Constantius II, 337-361

11. Die Bukinobanten siedelten an der rechten Seite des Rheins gegenüber von Mainz. Sie spielten eine bedeutende politische Rolle in der Zeit Iulians und Valentinians I. und stellen in der Notitia Dignitatum eine eigene Einheit des römischen Heeres.

12. Trier

13. Die spätantike Form des Kastells; sie zeichnet sich durch polygonale, geländebezogene Form, kleinus Marcellinus anlässlich der Schlacht von Adrianopel 378 genannt.

15. Ursprünglich persischer Lichtgott, dessen streng hierarchisch aufgebauter Kult im römischen Militär große Verbreitung fand.

16. Römischer Sonnengott, von Aurelian 274 sogar zum Staatsgott erhoben. Das Fest seiner Geburt wurde am 25. Dezember gefeiert.

17. Die Totengeister, oft als Ahnen verehrt.

18. Ursprünglich der etruskische Waldgott Selvans, der in satyrähnlicher Gestalt dargestellt wird. In der Kaiserzeit erscheint Silvanus meist als bärtiger Mann mit Sichel oder Rebmesser, oft in Begleitung eines Hundes.

19. Himmels- und Donnergott der Gallier, sein Symbol ist das Rad.

20. Gallische Göttin der Pferde; sie wurde auch ins Pantheon der Römer übernommen und war dort vor allem bei Fuhrmännern und Reitern beliebt.

21. Vermutlich eine Unterweltsgöttin der Gallier, häufig als Gefährtin des Hammergottes Sucellos vorkommend. Ihre genaue Funktion ist unbekannt.

22. Drei Göttinnen der Fruchtbarkeit, die hauptsächlich im Rheinland verehrt wurden.

23. Iulian Apostata, Caesar ab 355, Augustus von 361 bis 363, sagte sich von seiner christlichen Erziehung los und wurde letzter heidnischer Kaiser des römischen Reiches.

24. Kaiseraugst

25. Rheinzabern

26. Nichtrömische Hilfssoldaten

27. Die heutigen Vogesen und Teile des Pfälzer Waldes, der Name bezieht sich auf den keltischen Lokalgott Vosagus oder Vosegus.

28. Straßburg