Sagen und Überlieferungen

Gedanken und Ansichten, Vorstellungen über die Götterwelt und Erzählungen historischer Ereignisse sind von den Alamannen bis ins frühe Mittelalter nie aufgeschrieben worden. Von Generation zu Generation mündlich überliefert, sind sie mit ihren Trägern vergangen. Und doch sind Reste davon erhalten geblieben. Die sehr spärlichen diesbezüglichen Informationen über die Alamannen müssen allerdings immer durch Beobachtungen bei anderen westgermanischen Stämmen oder Nachrichten der isländischen Edda ergänzt werden.

Quellen

Römische Schriftsteller überliefern nicht nur historische Ereignisse, die die Germanen betreffen. Auch Bruchstücke mythischer Erzählungen finden sich in den über Jahrhunderte immer wieder abgeschriebenen Büchern von Publius Cornelius Tacitus und Cajus Julius Caesar. Im Frühmittelalter beginnen auch die Franken und in der Folge auch die Alamannen, Geschichte aufzuschreiben. Die alte mündliche Tradition reicht schließlich bis ins Mittelalter. Sagen werden endlich auch schriftlich fixiert. Auf Island wurde die Kenntnis der nordgermanischen Mythologie bis über die Christianisierung hinaus gepflegt. Die isländische Edda bringt uns somit eine zwar späte Fassung, deren Grundzüge aber auf allgemein germanische Grundlagen zurückgehen und wichtige Hinweise auf die nur sehr bruchstückhaft erkennbare Mythologie der Westgermanen liefern. Einige Bestandteile des Volksglaubens waren zudem bis ins 19. Jahrhundert anzutreffen.

Vortrag

Mündliche überlieferung setzt voraus, dass man sich die Texte auch merken kann. Das geht am besten mit „gebundener Sprache“, also in Reimen, Versen, Liedern. Gern wurden Heldenlieder zur Leierbegleitung vorgetragen, öfters auch von zwei Sängern – eine geachtete Kunst, die auch höher gestellte Herren pflegten. Ihnen wurde die Leier nicht selten ins Grab mitgegeben. Berühmte Funde von erhaltenen Leiern stammen aus den alamannischen Gräberfeldern von Oberflacht und Trossingen.

Sie feiern in alten Liedern, die bei ihnen die einzige Art von überlieferung und Geschichtsschreibung ist, einen erdgeborenen Sohn Twisto ...
Tacitus, Germania 2,3

Noch bin ich zwar gesund, allein wie kannst du heitren Liebesgesang von mir verlangen, der ich des langhaarigen Volkes Tischgenosse, hab germanische Worte auszuhalten, muss auch wieder und wieder ernsthaft, was da der burgundische Vielfrass vorsingt, loben der mit ranziger Butter sich den Kopf salbt. Du darfst Augen und Ohren glücklich preisen, glücklich preisen dir auch die Nase, dem nicht früh am Morgen schon zehn Portionen Knoblauch und elendige Zwiebel rülpst entgegen ...
Sidonius Apollinaris, carm. XII, um 467

Der Römer huldige dir mit seiner Leier, der Barbar mit seiner Harfe ... wir geben dir zierliche Verse, mögen dir die barbarischen Lieder leudos geben.
Venantius Fortunatus, carm. 7,8 61ff. an Herzog Lupus gerichtet:

In ähnlicher Weise werden alamannische Sänger auch Preislieder auf ihre Könige und Berichte über Schlachten gegen Römer, Burgunden und alamannische Nachbargaue zum Besten gegeben haben.

Stabreim

In der ersten Lautverschiebung hatte sich die Wortbetonung im Germanischen auf der ersten Silbe festgelegt. Die grundlegende Reimform der germanischen Sprachen war daher der Stabreim, also ein Reim des Wortanfanges, z.B. in „frank und frei“, „Haus und Hof“. Aber nicht die Anhäufung möglichst vieler Wörter mit gleichem Wortanfang war das Ziel, sondern die Hervorhebung der sinntragenden Worte. Dazu reichten ein oder zwei „Stäbe“ im ersten Halbvers und einer im zweiten:

Hildebrandslied, Bibliothek Kassel Hs.Theol. fol.54, 1r und 76v

do lettun se ærist...asckim scritan, Da ließen sie erst Eschen(lanzen) laufen
scarpen scurim: dat in dem sciltim stont. in scharfen Schauern, dass sie in den Schilden stunden (stecken blieben)
do stoptun to samane staim bort chludun, dann schritten sie zusammen, die steinbesetzten (Schilde) zerspaltend
heuwun harmlicco huitte scilti, hieben mit Harm auf die weißen Schilde
unti imo iro lintun luttilo wurtun, bis ihnen ihre Linden(schilde) klein wurden
giwigan miti wabnum... zerkämpft von den Waffen

Auch die Namen der Runen (hier der jüngeren, nordischen Runenreihe) wurden stabreimend gelernt und weitergegeben:

Handschrift, St. Gallen (Cod. Sang. 878, 9.Jh.) übersetzung Nachdichtung (nach Wolfskehl/v.d.Leyen)
Feu forman Vieh zuerst Viehstand vorne
Ur after Ur danach Urochs andringt
THuris thritten stabu Riese dritter (Buch-)Stab(e) Thurs dräut am dritten Stab
Os ist himo oboro Ase folgt diesem As der ist ihm über
Rat endost ritan Ritt zuletzt geritzt Rat am Ende ritz
Chaon thanne cliuot Geschwür klebt (folgt) dann Knistern daran klebt
Hagal Naut habet Hagel hat Not Hagel die Not hegt
Is Ar endi Sol Hagel hat Not Eis, Anfang und Sonne
Tiu Brica endi Man midi Tyr, Birke und Mensch dazw. Tiu, Birke und Mann inmitten
Lagu the leohto Wasser, das lichte Lache die lichte
Yr al bihabet Eibe beschließt das Ganze Yr enthält alles

Alltägliches

Im Alltag ist Dichtkunst nur selten belegt, war aber sicher auch verbreitet. Wir wissen z.B. dass es Totenlieder, Hochzeitslieder, Liebeslieder gegeben hat. Ein Wetzstein aus Skandinavien trägt eine Stabreiminschrift in Runen, die als Arbeitslied gedeutet wird.

Wetzstein von Strøm, um 600

Wate hali hino horna Es netze diesen Stein das Horn
haha skaþi, haþu ligi Schädige das Grummet! Es liege die Mahd

Schöpfungsmythen

In einem althochdeutschen christlichen Gebet finden sich noch Schilderungen der Welt vor der Schöpfung, die stellenweise den Schöpfungsversen in der isländischen Völuspá („Vision der Seherin“) fast wörtlich entsprechen.

Wetzstein von Strøm, um 600

Wessobrunner Schöpfungsgedicht,
Clm 22053 Bl. 65 v und 66r
Übersetzung zum Vergleich: aus der Völuspá
    Urzeit war es, da Ymir hauste:
Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista, Das erfragte ich bei den Menschen als der Wunder größtes, Nicht war Sand noch See noch Salzwogen
dat ero ni uuas noch ûfhimil, dass die Erde nicht war noch oben der Himmel, nicht Erde unten noch oben Himmel
noh paum nihheinîg noh sunna ni scein, noch irgendein Baum noch ein Berg war, Die Sonne kannte ihre Säle nicht
ni […] nohheinîg   noh sunna ni scein, nicht ein heller Stern noch die Sonne schien, der Mond kannte seine Macht noch nicht
noh mâno ni liuhta noh der mâreo sêo. noch leuchtete der Mond noch die glänzende See. die Sterne kannten ihre Stätte nicht
Dô dâr niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, Als da nichts war an Enden und Wenden,  
enti dô uuas der eino almahtîco cot, da war aber doch der eine allmächtige Gott,  
manno miltisto, enti dâr uuârun auh manake mit inan der Männer freundlichster und da waren auch viele bei ihm  
cootlîhhe geistâ. enti cot heilac ... gütige Engel, und der heilige Gott ...  

über die Herkunft der Menschen, verschiedener Völker und Stämme wird in allen Kulturen spekuliert. Glücklicherweise hat Tacitus eine solche Sage kontinentalgermanischer Stämme überliefert, die sich in der Edda nicht wiederfindet:

Sie feiern in alten Liedern,die bei ihnen die einzige Art von überlieferung und Geschichtsschreibung ist, einen erdgeborenen Gott Twisto. Ihm schreiben sie als Sohn den Mannus, den Urahnen und Gründer ihres Geschlechts, und dem Mannus drei Söhne zu, nach denen die dem Meere nächsten Ingwäonen, die mittleren Hermionen, die übrigen Istäwonen heißen. Manche stellen, wie ja das hohe Altertum dazu die Befugnis gibt, mehrere Söhne des Gottes und mehrere Völkerbenennungen auf: Marser, Gambrivier, Sueben, Vandilier, und das seien auch echte alte Namen.
Tacitus, Germania 2,3-4

Der Sprachwissenschaftler Felix Genzmer hat den Versuch gewagt, die entsprechenden Stellen des Tacitusberichts in einem kurzen "urgermanischen" Gedicht nachzudichten.

Was Twistô tiwaz Es war Tuisto der Gott
alanaz erþâi; entsprossen der Erde
Mannuz was Twistanis Mannus war des Tuisto
maguz haitanaz Sohn, wie es heißt
aldais uzrunsiz, der Eltern Ursprung
mannô metôduz. der Menschen Schöpfer
Burjinz waiteka þrinz burananz Mannêu: An Nachkommen weiß man drei Söhne des Mannus
Ingwjô auk Erminaz, Istwaz þridjô; Ingwo und Ermino, Istwo als dritter
ab þaimz sind þegnô þeudôz kwumanôz. von diesen sind Völker von Kriegern gekommen

Historische und Heldensagen

Die Umwälzungen der Völkerwanderungszeit haben sich in Sagen niedergeschlagen, die bis heute erhalten sind. Im berühmten Nibelungenepos hat ein unbekannter Dichter im 12. Jahrhundert mehrere dieser Sagen zusammengefügt und vermischt. Die einzelnen Geschichten lassen sich jedoch zum Teil noch aus dem Epos herausschälen.

Der zentrale Kern des Nibelungenliedes ist die Sage vom Burgundenuntergang. Im Jahr 437 haben hunnische Truppen das Burgunderreich um Worms vernichtet, wobei der Burgunderkönig Gundahar (der Gunther der Sage) und 20000 Gefolgsleute den Tod fanden. Vor der Schlacht dürften die Burgunden ihren Schatz im Rhein versenkt haben. Deshalb versucht am Ende der gierige Hunnenkönig Attila, dem König den Ort zu entlocken. Attila starb, wie man aus zeitgenössischen Quellen weiß, im Brautbett mit einer Germanin namens Ildiko (Ildiko = Hildchen? => Kriemhild?). Schon in der Antike erzählte man sich, sie hätte ihn ermordet, um den Tod ihrer Familie zu rächen. Diese Sage war bestimmt auch bei den alamannischen Nachbarn, die selbst öfters in Kämpfe mit den Burgunden verwickelt waren, im Umlauf. Im Mittelalter haben sich die Rollen in der Sage stark verändert. ältere Fassungen sind aber noch in Skandinavien überliefert.

Als um 500 die Franken die nördlichen Teile des alamannischen Gebietes eroberten, stand der Süden Alamanniens unter ostgotischem Schutz. Viele Adlige flüchteten sich – vielleicht sogar in die Residenz Ravenna – unter den Schutz des ostgotischen Königs Theoderich. Er war im Mittelalter unter dem Namen Dietrich von Bern (d.h. Verona) die beliebteste Sagengestalt im deutschsprachigen Raum, obwohl er als arianischer Christ aus katholischer Sicht ein Ketzer war. Vielleicht haben die Alamannen das so positive Bild von ihm vermittelt?

Geiler von Kaisersberg (1445-1510) beklagt sich, wenn man überhaupt noch Theologiestudenten finde, „so disputieren sye von herr Dietrich von Bern, nihil de praeceptis domini“ (nicht von den Lehren des Herrn).
Geiler von Kaisersberg (1445-1510)

Auch Sagen um den gotischen König Ermanarich, langobardische Sagen aus der Landnahmezeit in Italien, die Geschichte von Wieland dem Schmied und Siegfried dem Drachentöter dürften schon früh nördlich der Alpen verbreitet gewesen sein. über niederdeutsche Fassungen sind sie auch in Skandinavien bekannt geworden.

Das Muspilli - Visionen vom Weltuntergang

Auch Prophezeihungen über das Ende der Welt wurden bei den Germanen weitergegeben. In der isländischen Edda sind sie ausführlich geschildert, die alten germanischen Vorstellungen klingen aber auch im althochdeutschen Muspilli-Gedicht in christlicher Zeit noch nach.

Muspilli, München Bayerische Staatsbibliothek clm 14098 S.61r,119v - 121rv

(...)  
so daz Eliases pluot · in erda kitriufit,  
so inprinnant die perga, · poum ni kistentit  
enihc in erdu, · aha artruknent,  
muor varsuuilhit sih, · suilizot lougiu der himil,  
mano vallit, · prinnit mittilagart,  
   
sten ni kistentit, · verit denne stuatago in lant, (ki-= Vorsilbe ge-)
verit mit diu vuiru · viriho uuison: (v=f, aber uuison=wison)
dar ni mac denne mak andremo · helfan vora demo muspille.  
denne daz preita uuasal · allaz varprinnit,  
enti vuir enti luft · iz allaz arfurpit, (uuir = fuir = Feuer)
(...)  

 

Sobald das Blut des Elias auf die Erde trieft,
so entbrennen die Berge, kein Baum mehr steht
auf der Erde, Wasser vertrocknen,
Moor verschwelt, schwebt in Lohe der Himmel,
Mond fällt herab, brennt Mittilagart. (die Erde)
 
Stein nicht steht. Der Tag der Strafe fährt ins Land,
er fährt mit Feuer, die Menschen heimzusuchen.
Da vermag kein Verwandter dem anderen vor muspilli zu helfen,
wenn der breite Feuerregen alles verbrennt
und Feuer und Luft es alles hinweg fegt.

R.K.